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Schloss ohne Schlüssel
Die Balance der Rezeptoren steuert Blutgefäß-Entwicklung
Als Waisenrezeptoren („orphan receptors“) bezeichnen Wissenschaftler Rezeptor-Proteine auf der Oberfläche von Zellen, für die bisher kein passender Bindungspartner gefunden wurde. Die Bindungspartner, in der Regel Wachstumsfaktoren, aktivieren den Rezeptor und leiten so ein biologisches Signal ins Zellinnere weiter. „Orphan-Rezeptoren sind wie ein Schloss ohne Schlüssel. Niemand will damit arbeiten, weil sich ihre Funktion so schwer bestimmen lässt“, sagt Hellmut Augustin, Abteilungsleiter am Deutschen Krebsforschungszentrum und der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg.
Tie1 ist ein solch mysteriöser Waisenrezeptor, von dem bekannt ist, dass er wichtige Funktionen bei der Entwicklung von Blutgefäßen hat. Schaltet man Tie1 in Mäusen genetisch aus, so bleiben ihre Blutgefäße unausgereift und durchlässig. In der Folge sterben die Tiere an Ödemen, Flüssigkeitsaustritten aus den Adern. In erwachsenen Mäusen spielt Tie1 eine wichtige Rolle bei Atherosklerose und Tumorwachstum.
„Lange haben wir nach einem Bindungspartner für Tie1 gesucht, um zu verstehen, wie der Rezeptor seine Funktionen auf das Gefäßsystem ausübt. Nach jahrelanger erfolgloser Suche haben wir uns überlegt, dass Tie1 vielleicht gar keinen Bindungspartner hat“, sagt Soniya Savant, die Erstautorin der jetzt erschienenen Arbeit, die erstmals wesentliche Erkenntnisse über die Wirkungsweise des Orphan-Rezeptors Tie1 zutage gefördert hat.
Soniya Savant und ihre Kollegen haben ihre Hypothese in umfangreichen zellulären, biochemischen und genetischen Versuchsreihen getestet und schließlich ein komplexes Modell der Tie1-Funktion erarbeitet: In wachsenden Blutgefäßen wird Tie1 stark exprimiert und unterdrückt dort die Funktion des verwandten Rezeptors Tie2. Dadurch werden die Gefäßwandzellen in einem unreifen Zustand gehalten und das Aussprossen von Gefäßen gefördert. In ausreifenden Gefäßen ist Tie1 in Balance mit Tie2 und fördert die Tie2-vermittelte Signalweiterleitung. In vollkommen ausgereiften Gefäßen wird Tie1 kaum noch exprimiert, ihr Ruhezustand wird durch Tie2 aufrechterhalten.
Tie1 steuert also die Funktion eines anderen Rezeptors, ohne selbst einen Wachstumsfaktor zu binden. „Die dynamische Regulation der Tie1-Expression in unterschiedlich ausgereiften Gefäßen ist der Schlüssel für das Verständnis dieses Rezeptors“, erklärt Augustin. „Dadurch kann Tie1 je nach Kontext sowohl stimulierend als auch hemmend auf Tie2 wirken.“
Der Aktivierungszustand der Gefäße spielt bei vielen Krankheiten eine entscheidende Rolle. Daher sind Tie2 und seine Bindungspartner, die Angiopoietin Wachstumsfaktoren, bereits Gegenstand weltweiter intensiver klinischer Forschung mit dem Ziel, Tumoren und Augenerkrankungen zu behandeln.
Die Erkenntnis, dass Tie1 auf ruhenden Gefäßen praktisch nicht und auf pathologisch aktivierten stark exprimiert wird, macht nun auch diesen Waisen-Rezeptor zu einem interessanten therapeutischen Angriffsziel: Daher sind die Forscher um Hellmut Augustin nun dabei, die Bedeutung von Tie1 bei der Metastasierung zu entschlüsseln und zu prüfen, ob die Blockade von Tie1 verhindern kann, dass sich Tumoren ausbreiten.