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Medizin und Pflege
Startsignal für Projekt gemeinsames Lernen in Greifswald gegebe
Es ist davon auszugehen, dass im Versorgungsalltag eine verbesserte interprofessionelle Zusammenarbeit und Kooperation zwischen Pflege und Medizin erreicht werden kann, da diese bereits während der Ausbildung geübt wird. Das Projekt „Bildungscluster Greifswald – gemeinsames Lernen von Medizin und Pflege“ wurde am 16.12.2013 mit der Übergabe des Förderpreises des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft offiziell gestartet.
Es ist geplant, Pflegestudierende von der Hochschule Neubrandenburg und Medizinstudierende der Universitätsmedizin Greifswald vier Ausbildungsabschnitte gemeinsam absolvieren zu lassen. Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft fördert das Vorhaben mit 250.000 Euro.
Wie ist die Ausgangslage?
Hintergrund für das Greifswalder Vorhaben sind die bevorstehenden Änderungen in der medizinischen und pflegerischen Versorgungssituation in M-V und ganz Deutschland. Der rapide demografische Wandel ist durch einen Anstieg der alten und hochaltrigen Bevölkerungsgruppen charakterisiert. In der Folge gibt es mehr altersbedingte Erkrankungen. Konkret bedeutet dies: Die Zahl der chronisch kranken Patienten mit Mehrfacherkrankungen (Multimorbidität) nimmt zu und damit wächst auch die Anzahl der Pflegebedürftigen. Ihre Zahl stieg in Mecklenburg-Vorpommern zwischen 2005 und 2009 von 51.168 auf 61.442 und damit um 19,2 Prozent.
Laut einer Prognose der Bertelsmann Stiftung ist davon auszugehen, dass im Jahr 2030 bis zu 95.000 Menschen im Land Mecklenburg-Vorpommern pflegebedürftig sind. Gleichzeitig altern auch die Akteure im Gesundheitswesen.
Der künftig steigende Personalbedarf an Gesundheitsfachberufen durch das Ausscheiden älterer Generationen kann absehbar nicht durch jüngere Berufsangehörige kompensiert werden. Analysen für Mecklenburg-Vorpommern ergaben beispielsweise, dass von 1.138 Hausärzten im Jahr 2006 rund 40 Prozent (das sind 462 Ärzte) bis zum Jahr 2020 voraussichtlich in den Ruhestand eintreten werden. Die Situation in der Pflege ist ähnlich. Im Zeitraum von 2010 bis 2012 schlossen insgesamt 2.521 Pflegefachpersonen ihre Ausbildung in der Pflege ab. Im akademischen Ausbildungsbereich existiert derzeitig lediglich das Angebot des dualen Bachelorstudiengangs Pflegewissenschaft/Pflegemanagement des Fachbereiches Gesundheit, Pflege, Management der Hochschule Neubrandenburg. Im Zeitraum von 2010 bis 2012 schlossen hier 29 Studierende ihre Ausbildung ab.
Die Absolventenzahlen in Pflege und Medizin werden künftig jedoch nicht ausreichen, um den pflegerischen Versorgungsbedarf der Menschen im Bundesland zu sichern. In der Folge bestehen bereits heute in einigen Regionen M-V´s Versorgungslücken, die sich in der nächsten Dekade auf weite Teile des Bundesgebietes ausweiten können.
Was soll mit dem Projekt erreicht werden?
Es ergibt sich die Notwendigkeit, die medizinische und pflegerische Versorgung strukturell zu verändern. Das bedeutet, dass die Aufgabenfelder beider Professionen reformiert werden müssen. Die derzeitigen Ausbildungen für die Pflege und die Medizin sind dementsprechend anzupassen. Hier setzt das Greifswalder Projekt „Bildungscluster Medizin/Pflege“ an. Eines der Projektziele wird die modellhafte Entwicklung, Erprobung und Evaluation gemeinsamer Lehrangebote für Pflegestudierende der Hochschule Neubrandenburg und Medizinstudierende der Universitätsmedizin Greifswald sein. Dies erfolgt im Rahmen von vier Lehrveranstaltungen. Ziel ist der Aufbau einer interprofessionellen Zusammenarbeit, die bereits während der Ausbildung geübt wird.
Praktisch sieht die gemeinsame Ausbildung so aus, dass sich die Studierenden theoretisches Wissen in einer Vorlesung aneignen und anschließend ein Hospitationsprogramm in einer stationären Einrichtung der Gesundheitsversorgung absolvieren. Die Studierenden lernen diese Einrichtungen kennen und werden gemeinsam eine spezifische Fragestellung zur Institution bearbeiten. In der dritten Lehrveranstaltung lösen die Studierenden einen Patientenfall, um dann abschließend gemeinsam auf der Ausbildungsstation Palliativmedizin an der Universitätsmedizin Greifswald zu arbeiten. Die Studierenden können in dieser Zeit die Lernmethoden der beiden Professionen kennenlernen und erhalten einen Einblick in das Arbeitsfeld und die Arbeitsweise der jeweils anderen Berufsgruppe. Außerdem können sie Schnittstellen der Zusammenarbeit identifizieren und so eine patientenorientierte Kommunikation im Versorgungsalltag üben. Dies ist bislang in beiden Curricula der Medizin- und Pflegestudierenden nicht vorgesehen.
Im Weiteren verfolgt das Projekt das Ziel, die aus der interprofessionellen Zusammenarbeit resultierenden neuen Anforderungsprofile und Stellenbeschreibungen später am Arbeitsmarkt zu etablieren. Für die Entwicklung einer Strategie zur regionalen Nachwuchssicherung arbeiten die Wissenschaftler der Hochschulen mit Experten sowie Interessenvertreter beider Professionen, mit Arbeitgebern, mit der Wirtschaft und mit der öffentlichen Verwaltung zusammen. In dem Projekt soll auch eine Strategie entwickelt und auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet werden, dass die gemeinsam ausgebildeten Fachkräfte motiviert werden, im Land zu bleiben.
Was sagen die Projektbeteiligten?
Dr. Adina Dreier, Projektleiterin des Bildungsclusters Greifswald und Koordinatorin des Forschungsbereiches „Zukünftige Aufgabenteilung im Gesundheitswesen/Qualifikation“ des Instituts für Community Medicine
„Mit unserer Studie und den Projektpartnern können wir die Machbarkeit von interprofessionellem Lernen und die Akzeptanz bei den Medizin- und Pflegestudierenden untersuchen. Greifswald gehört mit seinem Projekt zu den ersten Standorten in Deutschland, an denen Interprofessional Education modellhaft erprobt und wissenschaftlich evaluiert wird.“
Professor Dr. Wolfgang Hoffmann, Projektleiter und geschäftsführender Direktor des federführenden Instituts für Community Medicine
„Bisher besteht das Defizit darin, dass die traditionell getrennten Ausbildungsgänge zwischen Medizin und Pflege zu einer unzureichenden Zusammenarbeit und Kooperation im Versorgungsalltag führen. Mit diesem Projekt sollen Medizinerinnen und Pflegefachpersonen auf die künftige Versorgungssituation vorbereitet und bedarfsgerecht qualifiziert werden. Der Versorgungsalltag in der ambulanten und stationären Versorgung ist durch den zunehmenden Trend der Delegation gekennzeichnet. Dies führt zu neuen Aufgabenfeldern für die Pflege und erfordert eine Anpassung der pflegerischen Qualifikation. Die Fähigkeiten der interdisziplinären Kommunikation und Teamorientierung gewinnen dabei an Bedeutung.“
Professor Dr. Roman F. Oppermann vom Fachbereich Gesundheit, Pflege, Management der Hochschule Neubranenburg
„Es gibt bereits eine langjährige Kooperation zwischen dem Fachbereich und dem Institut für Community Medicine. Die Zusammenarbeit in mehreren Projekten hat sich bewährt und maßgeblich zu neuen Entwicklungen in der Professionalisierung der Pflege beigetragen. Für unsere Pflegestudierenden aber auch für die Medizinstudierenden aus Greifswald eröffnet sich mit dem kooperativen Projekt die Möglichkeit, einen Einblick in das künftige Arbeitsfeld der jeweiligen Profession zu erhalten und zu erkennen, wo Schnittstellen im Versorgungs- und Behandlungsprozess bestehen. Ich verspreche mir von dem Projekt, dass die gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung zwischen den angehenden Ärzten und Pflegefachpersonen verbessert werden kann.“
Helmut Schapper, Kooperationspartner und Vorsitzender des Fachausschusses ambulante sozialpflegerische Dienste der LIGA der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in M-V e. V. und Fachbereichsleiter im Diakonischen Werk M-V e.V.
„Aus meiner Sicht trägt das Projekt einen entscheidenden Schritt zur Verbesserung der Kooperation der unterschiedlich qualifizierten und spezialisierten Gesundheitsfachberufe bei. Gleichzeitig unterstützt die Studie die nachhaltige Entwicklung tragfähiger Versorgungsstrukturen für die Zukunft sowohl unter dem Aspekt der demografischen Veränderungen als auch im Blick auf die gravierende Morbiditätsentwicklung. Im Weiteren kann dieses Projekt die Attraktivität der Ausbildung in beiden Professionen steigern. Dies lässt letztlich hoffen, dass sich in der Folge die Zahl der Absolventen erhöhen wird, um so den bereits bestehenden bzw. drohenden bestehenden Versorgungsdefiziten adäquat begegnen zu können.“
Dirk Scheer, Leiter des Dezernats 2 „Soziales, Jugend, Gesundheit, Sicherheit und Ordnung“ des Landkreises Vorpommern-Greifswald
„Das Bildungscluster Greifswald lässt sich hervorragend in die künftige Strategieentwicklung des Landkreises einbetten und liefert einen wichtigen Beitrag, um dem Fachkräftemangel in unserer Region begegnen zu können. Das regionale Interesse unserer Gebietskörperschaft – Sicherung der Daseinsvorsorge im Bereich Medizin und Pflege – wird dadurch unterstützt und präventiv angegangen. Die vorliegenden strategischen Überlegungen und Gremien, wie z. B. die Lenkungsgruppe BildungsEntwicklungsPlanung, bieten hierfür effektive Schnittstellen.“
Hintergrundinformationen
Zahlen und Fakten
- Für Mecklenburg-Vorpommern wurde ein Anstieg der Zahl von Demenzerkrankungen um 91 Prozent im Zeitraum von 2005 bis 2020 prognostiziert. Für Krebserkrankungen wird für denselben Zeitraum ein Anstieg um mehr als 22 Prozent vorhergesagt. Ähnlich verhält es sich in Bezug auf Schlaganfälle. Diese Fallzahlen sollen sich um 18 Prozent erhöhen.
- Es wird davon ausgegangen, dass bis 2020 je nach Bundesland zwischen 38 und 48 Prozent aller Hausärzte in den Ruhestand treten werden.
- Im Bereich der berufsbildenden Pflegeausbildung existierten in Mecklenburg-Vorpommern Ende 2012 insgesamt 50 Ausbildungsstätten (16 für Gesundheits- und Krankenpflege, 7 für Gesundheits- und Kinderkrankenpflege und 27 für Altenpflege).
- Das Projekt „Bildungscluster Greifswald – gemeinsames Lernen von Medizin und Pflege“ ist eines von bundesweit vier Projekten, das kürzlich vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft im Rahmen des Wettbewerbs „Allianzen regionaler Partner zur Stärkung und besseren Verzahnung von Bildungsangebot und Arbeitsmarktbedarf“ als Gewinner ausgewählt wurde. An dem Wettbewerb hatten sich über 80 Bewerber mit innovativen und kooperativen Konzepten zur Nachwuchssicherung, Mobilisierung von Bildungsreserven und engeren Verzahnung von Wissenschaft und Wirtschaft beteiligt.
Alle Fakten und Zahlen sind entnommen:
- Bertelsmann Stiftung (2013). Themenreport „Pflege 2030). Was ist zu erwarten – was ist zu tun?
- Deutscher Bundestag (2012). Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Mechthild Rawert, Petra Crone, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD – Drucksache 17/11802 – Sicherung einer gebührenfreien und zukunftsorientierten Pflegeausbildung
- Kopetsch, Thomas (2010), Dem deutschen Gesundheitswesen gehen die Ärzte aus! Studie zur Altersstruktur und Arztzahlentwicklung
- Siewert U, Fendrich K, Doblhammer-Reiter G, Scholz RD, Schuff-Werner P, Hoffmann W (2010). Health Care Con-sequences of Demographic Changes in Mecklenburg-West Pomerania – Projected Case Numbers for Age-Related Diseases up to the Year 2020, Based on the Study of Health in Pomerania (SHIP). Dtsch Arztebl Int, 107 (18), 328–334.