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Dtsch. Gesell. für Medizinische Psychologie
Gerd Gigerenzer zu Gast bei der DGMP
Obwohl es Samstagmittag und die letzte Veranstaltung auf dem gemeinsamen Kongress der DGMP und DGMS war: der Hörsaal war voll, niemand wollte, trotz der oft weiten Heimreise von Greifswald, diesen Vortrag versäumen. Prof. Gigerenzer, Direktor am MPI für Bildungsforschung, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, mehrfacher Honorarprofessor und Ehrendoktor und preisgekrönter Autor wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Schriften war gekommen, um über die oft irreführenden Darstellungen über den Nutzen und die Risiken von Gesundheitsmaßnahmen zu berichten und darüber, mit welch einfachen Methoden Gesundheitsinformationen für Arzt und Patient verständlich gemacht werden können.
Als ein Amerikanischer Politiker sich gegen die Einführung der Krankenversicherungspflicht wandte, argumentierte er: „Ich hatte Prostatakrebs. Ich wurde behandelt. Meine 5-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit ist 81%: Wäre ich in Großbritannien, mit einem verstaatlichten Gesundheitssystem behandelt worden, würde sie nur 44% betragen.“ Ist das nicht ein starkes Argument gegen das verstaatlichte System? Nein, sagt Gigerenzer und begründet warum: Überlebensraten sind irreführend und sagen nichts über den tatsächlichen Nutzen einer Maßnahme aus. Paradoxerweise kann gerade die intensive Früherkennung von Krebs dazu führen, dass die Überlebensraten steigen, ohne dass die Sterblichkeit an diesem Krebs sinkt. Wenn bei zwei nicht behandelbaren Karzinomen, die beide im Alter von 70 Jahren zum Tod führen würden, das eine im Alter von 67 Jahren und das andere im Alter von schon 57 Jahren entdeckt wird, so entsteht beim ersten der Eindruck, dass der Krebs innerhalb von 3 Jahren zum Tod geführt hat, beim zweiten würde man denken, dass das Leben durch die Behandlung um etliche Jahre verlängert wurde – am Ende sterben beide Patienten im selben Alter. Die Sterblichkeit ist also der entscheidende Punkt – und zwar die allgemeine Sterblichkeit. Die unterscheidet sich nicht zwischen Großbritannien und USA. Aber Früherkennung ist doch nützlich, möchte man da entgegnen. Dies gilt es wissenschaftlich zu prüfen, entgegnet hier Gigerenzer. Früherkennung kann auch dazu führen, dass zwar mehr Krebserkrankungen erkannt werden, aber dass viele dieser Krebserkrankungen niemals Schaden beim Patienten angerichtet hätten. Dann steigen zwar nominell die Überlebensraten, das liegt dann aber daran, dass hier ja Krebs behandelt wird, der nie geschadet hätte. Patienten müssen auch über diese Möglichkeit der sogenannten Überdiagnose informiert werden und über ihre Folgen – unnötige Verunsicherungen, oder sogar unnötige Krebsbehandlungen mit allen Nebenwirkungen – im Falle von Prostatakarzinom oft Impotenz und Inkontinenz. Ärzte sollten daher besser die Anzahl der Patienten nennen, die untersucht – oder im Falle von Therapien die behandelt werden müssen, damit ein Patient davon profitiert. Dann müssen die Patienten noch wissen, bei wie vielen der behandelten Patienten unerwünschte Nebenwirkungen auftreten. Wenn so beispielsweise der Patient erfährt, dass 200 Patienten behandelt werden müssen, damit einer von der Therapie profitiert, aber von den 200 behandelten 4 einen Schaden erleiden, der sonst nicht entstanden wäre, würde er sich möglicherweise eher gegen die Therapie entscheiden. Häufiger werden solche Daten aber ganz anders berichtet, so Gigerenzer. Selbst anerkannte wissenschaftliche Fachzeitschriften erklären den Nutzen einer medizinischen Maßnahme oft mit der Benennung irreführender, weil übertreibender relativer Kennzahlen (z.B. das Risiko für eine Erkrankung sinkt um 25%, wenn von 200 Patienten durch die Behandlung nur 3 statt 4 krank werden). Gleichzeitig beschreiben sie den potentiellen Schaden dann mit den realistischen, aber viel kleineren absoluten Kennzahlen (im obigen Zahlenbeispiel: 2% der Patienten haben Nebenwirkungen). Welcher Arzt würde die Behandlung nicht für nützlich halten wenn er liest, dass das Krankheitsrisiko um 25% sinkt, schädliche Nebenwirkungen aber nur in 2% der Fälle auftreten.
Ärztinnen und Ärzte, so Gigerenzers Forderung, sollten daher schon ab dem ersten Jahr ihres Studiums lernen, solche irreführenden Darstellungen zu durchschauen. Die Vizepräsidentin der DGMP Prof. Renate Deinzer aus Gießen, die Prof. Gigerenzer für die Veranstaltung gewonnen hatte, betont dann auch, dass die Medizinische Psychologie eine wichtige Aufgabe darin sieht, genau diese Fähigkeit angehenden Ärztinnen und Ärzten zu vermitteln. An vielen Standorten sei dies schon festes Lehrrepertoire, das ja im Übrigen auch in der staatlichen Vorprüfung der Studierenden abgefragt werden würde. Dennoch zeigten sich oft Widerstände – vielleicht auch, weil so viele, auch der durch öffentliche Institutionen verbreiteten Informationsmaterialien, noch die irreführenden Zahlen verwenden würden. Das Plenum ist sich einig, dass hier zum Nutzen der Patienten ein Umdenken auf breiter Front stattfinden muss.
Die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Psychologie (DGMP) ist eine interdisziplinäre Fachgesellschaft und befasst sich seit Jahrzehnten mit Forschung an der Schnittstelle von Psychologie und Medizin http://www.dgmp-online.de