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MDC Berlin
Einflussreiche Barrieren
Gute Organisation ist wichtig. Das gilt erst recht für das Genom, die Gesamtheit der Erbinformationen eines Lebewesens, auch bekannt als DNA. Meterlang ist der Erbgutfaden, den jede einzelne Körperzelle in ihrem Kern von nur rund fünf Mikrometern Durchmesser verstauen muss. Bei Säugetieren beherbergt das Genom viele Tausend Gene und bis zu zehnmal mehr Schalter, die Enhancer (zu deutsch: Verstärker). Zwischen diesen kommt es dank einer ausgeklügelten Faltung zu einem wohl geordneten räumlichen Zusammenspiel. Denn wie ein Organismus sich entwickelt und ob er krank wird, hängt maßgeblich davon ab, ob Tausende Gene korrekt und jeweils zum richtigen Zeitpunkt aktiviert und abgelesen werden. Nur so können sich Gewebe und Zelltypen korrekt bilden.
Damit bei der dynamischen Faltung dieser komplexen 3D-Struktur keine falschen Gene aktiviert werden, gibt es molekulare Grenzen im Genom, die Ordnung ins Chaos bringen. Veränderungen der Grenzen können zu angeborenen Fehlbildungen führen oder zu Krebs. Ein Team um Dr. Darío Lupiáñez, Leiter der Arbeitsgruppe „Epigenetics and Sex Development“ am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie (BIMSB) des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC), hat nun bislang unbekannte Details über diese molekularen Barrieren entdeckt. Die Ergebnisse der Forschungsgruppe wurden nun in „Nature Genetics“ veröffentlicht.
Zusammen, was zusammen gehört
Ähnlich wie eine Stadt ist auch das Genom in relativ große funktionelle Nachbarschaften unterteilt. Diese Erbgut-Kieze heißen im Fachjargon „topologisch assoziierte Domäne“, kurz TADs. Enhancer und die zugehörigen Gene, die sie aktivieren, sitzen in der Regel in derselben TAD; und Enhancer können im Allgemeinen keine Gene auf anderen TADs aktivieren. „Bestimmte Genom-Abschnitte mit charakteristischen Eigenschaften trennen die TADs voneinander“, erklärt Chiara Anania, Erstautorin der Studie. Diese TAD-Grenzen fungieren als molekulare Barrieren. Sie sorgen dafür, dass bei der Genexpression nichts durcheinander gerät. Verändern sich diese Grenzabschnitte kann es passieren, dass Enhancer das falsche Gen aktivieren oder ihr Ziel nicht mehr finden – so als fehle die Postleitzahl auf einem Paket und plötzlich ist der Kurierdienst bei der falschen Adresse oder liefert gar nicht mehr. In der Zelle können solche Fehler zu Krankheiten führen.
„Die TAD-Grenzen in verschiedenen Zelltypen und Geweben wurden zwar präzise kartiert. Aber wir hatten bislang nicht verstanden, wie sie funktionieren“, sagt Anania. Bekannt war nur, dass die abschirmende Eigenschaft der TAD-Grenzen auf der Bindung eines Proteins namens CTCF basiert. Daher sind die entsprechenden DNA-Abschnitte reich an CTCF-Bindestellen, gewissermaßen bilden diese das Fundament für die Abgrenzung. Die Forschungsgruppe untersuchte nun eine prototypische TAD-Grenze, die sechs verschiedene solcher CTCF-Stellen enthält. Für ihre Experimente nutzten die Wissenschaftler*innen Mäuse, bei denen sie gezielt diese Bindungsstellen für das CTFC-Protein ändern konnten. „Wir haben verschiedene Mutationen dieser Stellen erzeugt, um zu verstehen, was genau für die Ausbildung einer funktionellen Grenze erforderlich ist“, erläutert Anania. So konnte das Team in einem Organismus untersuchen, wie die Barrieren funktionieren und welchen Einfluss sie auf die Genaktivierung haben. Konkret betrachteten die Forscher*innen dazu Gene, die für die Entwicklung der Gliedmaßen verantwortlich sind.
Grenze heißt nicht gleich Grenze
„Wir haben entdeckt, dass zwar mehrere Stellen innerhalb einer Grenzflächenregion CTCF binden können, diese aber nicht gleichwertig sind“, sagt Rafael Acemel, ebenfalls Erstautor der Publikation. Überraschenderweise würden einige Bindestellen TADs besser voneinander abschirmen als andere, sagt der Genetiker. Selbst eine TAD-Grenzkonfiguration mit nur zwei CTCF-Stellen könne mehr Abschirmung bieten als eine mit vier – abhängig von den individuellen Eigenschaften der einzelnen Stellen. Zudem zeigte sich, dass CTCF-Stellen gewissermaßen zusammenarbeiten und auch das Fehlen des jeweils anderen bis zu einem gewissen Grad kompensieren können.
„Es wurde allgemein angenommen, dass eine Grenze die Kommunikation zwischen Enhancern und Genen auf unterschiedlichen TADs üblicherweise verhindern würde“, erklärt Lupiáñez. „Unsere Ergebnisse legen jedoch nahe, die Abschirmung nicht als absolute Eigenschaft von TAD-Grenzen zu betrachten“, sagt der Forschungsgruppenleiter. Wenn sich die Stärke der TAD-Grenze ändert – zum Beispiel durch eine verringerte Anzahl oder eine Neuanordnung von CTCF-Stellen – kann dies auch den Grad der Genaktivierung durch Enhancer in einer benachbarten TAD beeinflussen. Infolge der zahlenmäßigen Änderung der Genexpression waren die damit verbundenen Gliedmaßenphänotypen mehr oder weniger stark ausgeprägt, wie die Forscher*innen in ihren Experimenten beobachteten.
Frühere Untersuchungen zeigten Veränderungen der TAD-Grenzen beispielsweise bei Patientinnen und Patienten, die etwa an genetisch bedingten Fehlbildungen der Gliedmaßen oder dem fragilen X-Syndrom leiden. „Hier könnten die Veränderungen der Grenzen zu einer fehlerhaften Genexpression führen und Krankheiten auslösen“, vermutet Lupiañez. Auch in Krebszellen sind die TAD-Grenzen oftmals umgestaltet und führen zu einer ungewöhnlichen Genexpression. Lupiañez hofft daher, dass die Erkenntnisse seines Teams in Zukunft dazu beitragen, neue Strategien zur Korrektur der fehlerhaften Genexpression bei solchen Krankheiten zu entwickeln.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner
Dr. Darío Jesús Lupiáñez García
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft
E-Mail: Dario.Lupianez@mdc-berlin.de
Originalpublikation
Chiara Anania, Rafael Acemel (2022): ”In vivo dissection of a clustered-CTCF domain boundary reveals developmental principles of regulatory insulation.” Nature Genetics. DOI: 10.1038/s41588-022-01117-9. https://www.nature.com/articles/s41588-022-01117-9