• Selbsthilfe [+]
  • von Thomas Heckmann

BAG Selbsthilfe e.V.

Stellungnahme BAG Selbsthilfe zu RSA 2013

© Chris Beck / pixelio.de

Stellungnahme der BAG SELBSTHILFE zum vorliegenden „Entwurf der Festlegung von Morbiditätsgruppen, Zuordnungsalgorithmus, Regressions- und Berechnungsverfahren für das Jahr 2013“.

Als Dachverband von 120 Bundesorganisationen der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen und von 13 Landesarbeitsgemeinschaften nimmt die BAG SELBSTHILFE zum vorliegenden „Entwurf der Festlegung von Morbiditätsgruppen, Zuordnungsalgorithmus, Regressions- und Berechnungsverfahren für das Jahr 2013“ wie folgt Stellung:

I. Bearbeitungsfrist
Die BAG SELBSTHILFE bittet wie auch schon im Vorjahr nachdrücklich um längere Fristen für die Bearbeitung der sehr umfangreichen und inhaltlich komplexen Festlegungen des wissenschaftlichen Beirats des Bundesversicherungsamtes. Viele unserer Verbände verfügen nicht über hauptamtliches Personal und sind auf ehrenamtliche Mitarbeit angewiesen. Wir regen daher an, die Beteiligung der Patientenorganisationen künftig im Sinne eines Mitberatungsrechts nach der Patientenbeteiligungsverordnung zu organisieren.

II. Schaffung eines (Hoch-) Risikopools
Die BAG SELBSTHILFE vertritt seit Jahren die Auffassung, dass der Morbi-RSA durch seine Begrenzung auf 80 Krankheiten in vielen Fällen nur die Durchschnittskosten einer häufigen Erkrankung abbildet und dass bei der Zusammenführung von verschiedenen Erkrankungen zu einer hierarchisierten Morbiditätsgruppe oft eine sehr hohe Streubreite besteht. Gerade bei Erkrankungen, wie etwa bei bestimmten Formen der Hämophilie oder der Mukopoly-saccharidosen hat dies jedoch zur Folge, dass die im Rahmen des MorbiRSA den Kassen erstatteten Kosten um ein Vielfaches niedriger sind als die tatsächlichen typischen Kosten einer solchen Erkrankung. Diese Erkrankungen mit hohen Kosten und vergleichsweise niedrigen Ausgleichszahlungen werden damit zu einem Kostenrisiko für die jeweilige Krankenkasse. Für Patientinnen und Patienten hat dies in der Praxis leider zur Folge, dass von den Krankenkassen in vielen Fällen die Übernahme von Behandlungskosten abgelehnt wird, trotzdem diese Behandlungen im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen enthalten sind. Auf diese Weise versuchen manche Krankenkassen, derartig kostenintensive Patientinnen und Patienten gegen die geltende Rechtslage zu einem Wechsel ihrer Krankenkasse zu veranlassen; für die Betroffenen sind derartige Praktiken natürlich in höchstem Maße belastend und beeinträchtigen natürlich auch ihre Gesundheit.

Aus diesem Grunde befürwortet die BAG SELBSTHILFE die Idee eines (Hoch-) Risikopools als einen ersten Schritt zu einer höheren Zielgenauigkeit des MorbiRSA und einer erhöhten Verteilungsgerechtigkeit zwischen den einzelnen Krankenkassen. Auf lange Sicht müsste jedoch aus Sicht der BAG SELBSTHILFE seitens des Gesetzgebers die Anzahl der zu berücksichtigenden Krankheiten auf mindestens 200 - 300 Krankheiten erhöht werden, wie dies ja auch bereits im Gutachten zum MorbiRSA vorgeschlagen wurde. Zudem müsste insbesondere für die vielen seltenen Erkrankungen eine Generalklausel geschaffen werden, damit auch diese Erkrankungs-kosten hinreichend im MorbiRSA abgebildet werden können.

III. Aufnahme der Erkrankung „Chronischer Schmerz“

1) Die BAG SELBSTHILFE setzt sich dafür ein, auch den chronischen Schmerz i.S.d. ICD- F45.41 Chronische Schmerzen mit somatischen oder psychischen Faktoren in den Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich aufzunehmen. Im Vordergrund des klinischen Bildes stehen seit mindestens 6 Monaten bestehende Schmerzen in einer oder mehreren anatomischen Regionen, die ihren Ausgangspunkt in einem physiologischen Prozess oder einer körperlichen Störung haben. Psychischen Faktoren wird eine wichtige Rolle für Schweregrad und Aufrechterhaltung der Schmerzen beigemessen. Die ICD- Klassifizierung für eine Erkrankung, an der nach Angaben der Fachgesellschaften rund 17 % der Bevölkerung leiden, wurde leider erst sehr spät, nämlich im Januar 2009 festgelegt, so dass sie möglicherweise noch nicht in statistisch relevanter Zahl verwendet wird.

2) Schmerzen sind der Anlass für 50 Prozent aller Arzt- Patientenkotakte, am häufigsten sind Rücken-, Kopf-, Nerven- und Tumorschmerzen. Die direkten und indirekten Kosten allein der Rückenschmerzen werden auf 25 Mrd. Euro pro Jahr geschätzt.

Nachdem nach den Angaben unseres Mitgliedsverbandes, der Deutschen Schmerzliga, eine solche Erkrankung mehrere tausend Euro pro Jahr kostet, bittet die BAG SELBSTHILFE die entsprechenden Daten daraufhin zu überprüfen, ob diese Erkrankung in den MorbiRSA aufgenommen werden kann, um so eine adäquate Versorgung dieser Patienten innerhalb der jeweiligen Kassen zu gewährleisten.

3) Klärungsbedarf wird ferner hinsichtlich der Zuordnung der Borreliose gesehen. Hier bestehen mehrfache Möglichkeiten der Einordnung, die je nach Sichtweise der medizinischen Ausbildung differieren.

Beispiel:

3: Infektionen durch opportunistische Erreger,
34: Depression (bei Borreliose eine klassische Fehldiagnose),
44: Multiple Sklerose und andere demyelisierende Erkrankungen des ZNS,
70: Schwerwiegende bakterielle Hautinfektionen,
79: Chronischer Schmerz.

Hingegen fehlt ICD-Code A69.2 Lyme-Krankheit, mit einem Symptomenstrauß wie oben beschrieben, der Behandler und Leistungsträger aus monetären Gründen geradezu in die Fehldiagnosen hetzt.

Es ist nicht einsehbar, weshalb z.B. 70) Schwerwiegende bakterielle Hautinfektionen für das Ausgleichsjahr zu berücksichtigend sein sollen, eine schwerwiegende Lyme-Krankheit (ICD-10: A69.2 bzw. M01.2) als schwer wiegende bakterielle Infektion nicht.

Die Daten der Auswertungen sind nicht nachvollziehbar. Erwartete Mehrkosten für

+ Lyme-Borreliose (ICD-10: „Lyme-Krankheit!!) – 210,13 €
+ Anaphylaktischer Schock + 848,67 €
+ Multiple Sklerose u. andere demyelinis. Enzündungen + 6.679,67 €
+ Infektion durch opportunistische Erreger + 2.624,13 €

Insofern möchten wir ergänzend um Zurverfügungstellung der entsprechenden Berechnungsgrundlagen bitten.

4) Die gravierendsten Defizite im vorliegenden Entwurf sind jedoch im Bereich der Demenz zu sehen.

Die vorgelegte Liste der Krankheiten für das Jahr 2013 enttäuscht aus Sicht der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sehr, weil wie schon in dem ersten Gutachten 2008 weder die Alzheimer-Krankheit noch andere Demenzformen in der Liste enthalten sind. 2008 hat man später die Demenzen sehr wohl aufgenommen. Es ist aus unserer Sicht unverständlich, wie durch Umgruppierungen von Krankheiten die Demenzen, auch die Alzheimer-Krankheit, plötzlich zu den unspezifischen degenerativen Krankheiten des Nervensystems gehören soll, obwohl die Diagnostik und Abgrenzung der verschiedenen Demenzformen immer genauer wird:

Demenzen gehören zu den großen Volkskrankheiten. Schon jetzt leiden etwa 1,2 Millionen Menschen in Deutschland an einer Demenzerkrankung. Auf Grund der demographischen Entwicklung wird weltweit – ohne einen Durchbruch in Prävention und Therapie – eine enorme Zunahme in den nächsten Jahren erwartet. Für Deutschland sind Zahlen von 2,6 Millionen für das Jahr 2050 prognostiziert (Bickel, 2010). Dies entspricht einem mittleren Anstieg der Patientenzahlen um über 35.000 pro Jahr.

Im Bereich der Demenzen beklagen wir seit Jahren eine Unterversorgung sowohl im Bereich der Diagnostik als auch im Bereich der Therapie. Studien belegen, dass nur ein geringer Teil der Patienten gemäß den Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften mit Anti-Dementiva behandelt wird. Dies bestätigen auch die 5.000-6.000 Menschen, die wir pro Jahr an unserem bundesweiten Alzheimer-Telefon informieren und beraten. Hier wird also bei der Berechnung der Zustand einer chronischen Unterversorgung zur Grundlage gemacht, von der zu befürchten ist, dass sie durch den MorbiRSA zementiert werden wird.

Hinzu kommt, dass viele Demenzkranke sich krankheitsbedingt weigern, einen Arzt aufzusuchen, insbesondere wenn sie keine Angehörigen haben, die einen Arztbesuch veranlassen. Das spart Kosten, weil diese Menschen nicht oder viel zu spät diagnostiziert werden und sich nicht behandeln lassen. Aus unserer Sicht kann es nicht sein, dass aus diesem Grund die Gruppe der Demenzkranken quasi noch bestraft wird, weil sie krankheitsbedingt Kosten nicht verursacht. Unser gemeinsames Ziel sollte doch sein, dass allen erkrankten Patienten, auch die zunehmende Zahl der allein lebenden Demenzkranken, eine Behandlung zugänglich gemacht wird.

Außerdem möchten wir darauf hinweisen, dass in vielen Fällen Demenzkranke wegen anderer Erkrankungen ins Krankenhaus ein­gewiesen werden, z.B. Hüftgelenksfraktur, entgleister Diabetes usw. Eine Behandlung ist bei bestehender Demenz oft sehr viel schwieriger und sorgt für längere Liegezeiten. Diese Mehrkosten werden nicht der demenziellen Grunderkrankung zugeschrieben sondern der Aufnahmediagnose. Auf Grund der Zunahme der Demenzen erwarten wir künftig eine größere Zahl von Demenzkranken auf allen Stationen von Kranken­häusern, die durch den zeitintensiveren Umgang mit ihnen auch höhere Kosten durch längere Liegezeiten verursachen werden.

Eine grundsätzliche Kritik wird mit der Diskussion über den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich wieder bestärkt. In unserem Gesundheitswesen wird der Mensch nicht ganzheitlich betrachtet, was ökonomisch gesehen nicht nur zu einer problematischen Versorgung für den Einzelnen führt, sondern auch gesamtgesellschaftlich nicht sinnvoll erscheint. Im Bereich der Demenzen wird sehr deutlich, was die Sektorisierung unseres Gesund­heits­wesen verursacht. Mit dem MorbiRSA werden nur die Kosten der Kranken­versicherung betrachtet. Was eine leitliniengerechte Therapie und die Ausnutzung der Rehabilitationspotentiale für die Pflegekassen und auch für die Versorgung durch die Familien bedeutet, wird bei dieser Sichtweise nicht berücksichtigt.

Wir hoffen sehr, dass die Demenzen erneut in die Liste der zu berücksichtigenden Krankheiten aufgenommen werden, damit die schlechte Versorgungslage durch den MorbiRSA nicht noch fest geschrieben wird.

Die Stellungnahme gibt es hier auch noch einmal als pdf-Dokument.

 

Quelle: Stellungnahme der BAG Selbsthilfe vom 25.01.2012 (tsc)

06.03.2024, 15:44 | vth

Zurück